Miss Journey: Frauen sichtbar machen mit KI

von | 15. Oktober 2023 | Bildermächtig

Vom Bildgenerator „Miss Journey“ erstellte Porträts einer Astronautin und einer Ärztin. Die Astronautin ist eine ältere, weiße Frau, die Ärztin eine junge Schwarze Frau.

KI-generierte Porträtbilder einer Astronautin und einer Ärztin, hergestellt mit dem Bildgenerator „Miss Journey“

In den Niederlanden, wo ich seit zehn Jahren lebe, gibt es einen Begriff, der mich in den letzten Wochen zum Nachdenken gebracht hat. Das Wort heißt „beeldvorming“. Ganz unelegant ins Deutsche übersetzt bedeutet es: Bildformung. Das Entstehen von Bildern. Allerdings nicht passiv, sondern aktiv. Sozusagen das Erzeugen von Bildern. Im übertragenen Sinne bedeutet es auch Meinungsbildung, aber bleiben wir mal bei der wörtlichen Bedeutung, aus der sich der Begriff zusammensetzt.

Wenn wir Bilder rezipieren, dann oft passiv. Wir werden mit Bildern konfrontiert, in den Medien, im Alltag, in der Werbung. Diese Bilder formen, wie wir über eine bestimmte Person, ein Produkt oder eine gewisse Gruppe denken. Eigentlich, wie wir die Welt sehen. Deshalb wird in den Niederlanden „beeldvorming“ auch oft im Zusammenhang mit Medien genannt, wenn es um die Darstellung einer (marginalisierten) Gruppe geht. Gerade, wenn dabei ein bestimmtes Narrativ transportiert wird.

Männlich als Standard

Wie sehr Gendern die Bilder in unserem Kopf beeinflusst, zeigt sich, wenn wir auf Sprachen schauen, in denen Worte kein Geschlecht haben. Zum Beispiel Englisch.

Machen wir mal ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich jemanden zum Wort „pilot“ vor. Oder „doctor“. Oder „lawyer“. Wie viele Personen in ihrem Kopf waren weiblich? Wie viele Schwarz? Wie viele trugen ein Kopftuch oder eine Kippa? Wie viele waren behindert?

Ganz genau.

Dass dieses Problem aber nicht nur unsere eigenen Gedanken betrifft, zeigt die britische Journalistin und Autorin Caroline Criado Perez. In ihrem Buch „Invisible Women – Data Bias in a World Designed for Men“ (deutsche Ausgabe: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert) spricht sie darüber, dass selbst Emojis bis vor Kurzem ausschließlich männlich waren. Bis 2016, um genau zu sein.

Der Code, auf dem die Emojis basieren, war als solcher neutral. Hingegen waren es die Hersteller (ich habe hier absichtlich nicht gegendert, weil ich vermute, dass wirklich keine Frauen unter ihnen waren), die das Design der Emojis bestimmten. So wurde aus spy eben ein männlicher Spion.

Sie dürfen sich jetzt hier gerne ein Mindblow-Emoji vorstellen. Wenn es geht, bitte ein weibliches.

Sexismus (und Rassismus, und Ableismus, …) in Künstlicher Intelligenz

Ein ähnliches Problem zeigt sich bei Künstlicher Intelligenz (KI). Verwendet jemand ein Tool online, das durch KI Bilder erstellt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die dargestellte Person weiß und männlich ist. Dadurch wird beeinflusst, wie wir die Welt sehen. Und wie wir die Welt sehen, beeinflusst wiederum KI, denn die lernt von bestehenden Datensätzen, in denen weiße Männer ebenfalls die prominenteste Gruppe sind. Das heißt also, wir drehen uns im Kreis.

Dass die meisten Personen, die beispielsweise in IT-Berufen arbeiten und damit möglicherweise an der Programmierung von Software oder Algorithmen beteiligt sind, Männer sind, denen vielleicht nicht einmal auffällt, dass die Darstellung von Frauen fehlt, macht die Situation nicht besser.

Und dabei habe ich jetzt erstmal nur von zwei Geschlechtern gesprochen. Hinzu kommt ja dann auch noch die Sichtbarkeit von Transpersonen, behinderten Menschen, People of Color usw. Die Liste ist sehr lang.

Miss Journey gegen den Bias

Aber es gibt jetzt in den Niederlanden ein Tool, das das ändern will: Miss Journey.

Pünktlich zum Weltfrauentag 2023 ging eine neue Webseite online, mit einem Text-zu-Bild-Generator basierend auf Künstlicher Intelligenz. Der Name „Miss Journey“ ist dabei an das bekannte Tool Midjourney angelehnt, ebenfalls ein KI-Bildgenerator. Dieser hingegen zeigt vornehmlich (weiße) Männer. Der Clou von Miss Journey: Alle Bilder, die hier entstehen, bilden Frauen ab. Frauen aller Hautfarben, Religionen und Altersgruppen. Als CEO, als Ärztin, Soldatin, Pilotin, Formel-1-Fahrerin, Kickboxerin. Die Dateien können heruntergeladen und zum Beispiel für die Bebilderung der eigenen Website oder auf Social Media verwendet werden.

KI-generiertes Porträt einer Pilotin. Sie trägt ein grünes Kopftuch und Uniform.

Porträt einer Pilotin, KI-generiert mit „Miss Journey“

KI-generiertes Porträt einer Soldatin. Die asiatisch aussehende Frau trägt eine militärische Uniform.

Porträt einer Soldatin, KI-generiert mit „Miss Journey“

Das Ziel: Unseren Bias, den wir alle (unbewusst) haben, aufzubrechen. Wir sind es so sehr gewöhnt, nur (weiße) Männer zu sehen, dass es uns komisch (oder sogar ungerecht vorkommt), plötzlich nur Frauen zu sehen.

Genau das ist nämlich in einer niederländischen Talkshow passiert, in der Miss Journey Thema war. Eine der Gästinnen gab an, dass sie es schade fände, dass dieses Tool jetzt wiederum Männer diskriminiere.

Vorbilder schaffen (wortwörtlich!)

Allerdings habe es auch positive, fast schon emotionale Reaktionen gegeben, sagt Helen Pink. Sie ist Gründerin von TEDxAmsterdamWomen, die hinter der Miss Journey-Kampagne stecken.

So habe sie beispielsweise eine Nachricht von einem Vater erhalten, der seine Töchter nach ihren ambitioniertesten Berufszielen gefragt habe. Anschließend habe er mithilfe von Miss Journey die Bilder kreiert, die zum Aussehen der Kinder passenden ausgewählt und habe sie ausgedruckt und eingerahmt auf deren Nachttisch gestellt.

Nach dem Prinzip: Was sie sehen können, das können sie auch schaffen.

Diesen positiven Effekt, das Erstellen von individuellen Vorbildern (im wahren Sinne des Wortes!), will Miss Journey – das eigentlich wirklich nur als Kampagne für den Weltfrauentag gedacht war – in Zukunft vielleicht auch an Schulen weitertragen, in Form von Präsentationen, die Mädchen anhand von Bildern zeigen sollen, was alles möglich ist.

Denn wenn Mädchen schon durch (alte) Disney-Filme, RomComs und Märchen mit sexistischen Geschlechterrollen und Vorstellungen von Liebe und (meist hetero-) Paarbeziehungen und durch Social Media mit völlig überzogenen Körperbildern konfrontiert werden, dann können wir ihnen ja auch mal was Sinnvolles zeigen, findet Helen Pink.

Sichtbarkeit von Frauen? Preisgekrönt!

Aber auch wenn Miss Journey eigentlich recht klein gedacht war, die Welt sieht das offenbar anders. Denn das KI-Tool wird seit seinem Erscheinen Anfang 2023 mit Preisen nahezu überschüttet. Auf Nachfrage musste Helen Pink sogar zugeben, dass sie gar nicht mehr genau wisse, wie viele und welche es nun alle sind.

Auszeichnungen für so etwas Simples wie das Zeigen von Frauen. So sehr mich das freut, so bestürzt macht es mich gleichzeitig. Waren wir doch offenbar bei der Sichtbarkeit von Frauen nicht einmal ansatzweise so weit, wie wir eigentlich dachten.

„Miss Journey hat die Menschen wachgerüttelt“, sagt Helen Pink, „indem es blinde Flecken aufgezeigt hat. Erst jetzt merken die Leute, wie oft sie einen Mann sehen, wenn sie eigentlich auch eine Frau sehen könnten.“

Den Erfolg will Miss Journey jetzt noch so lange nutzen, wie es geht. In den nächsten Wochen wird in einem Amsterdamer Kino, auf großer Leinwand, eine Vorführung stattfinden. Auf einer Mega-Leinwand wird zuerst nur Flackern gezeigt, dann tauchen die Bilder verschiedener Frauen auf. Überlebensgroß. Auf einer meterhohen Fläche.

Das ist Frauen-beeldvorming, wie ich sie sehen will. Damit vielleicht irgendwann Frauen-Sehen nichts Besonderes mehr ist.

Mehr zu Genderbias:

Wenn englische Schulkinder Bilder malen: „firefighter“, „surgeon“ oder „fighter pilot“ → Video in unserer YouTube-Playlist: Inspiring The Future – Redraw The Balance.

Frau mit dunklen Locken trägt einen aufgespannten Regenschirm und lacht in die Kamera

© Sarah Tulej

Sarah Tekath

Gastautorin

Anstatt diesen Text zu schreiben, hat sie viel zu viel Zeit damit verbracht, Miss Journey-Bilder im Disney- oder van Gogh-Stil erstellen zu lassen. Ja, das geht auch. Wenn sie so nicht ihre Zeit verschwendet, arbeitet Sarah Tekath als freie Auslandskorrespondentin und Podcasterin in den Niederlanden.

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