„Beim NDR gendern wir seit zwei Jahren.“

von | 27. Juni 2019 | Erfahrungsberichte, Gendern im Journalismus, Praxistipps

Portraitfoto Nicole Schmutte, Gleichstellungsbeauftragte des NDR

Nicole Schmutte leitet die Abteilung Gleichstellung und Diversity
© NDR

Mit feministischer Linguistik hat sich Nicole Schmutte bereits im Germanistikstudium befasst. Nach dem Volontariat beim NDR kam sie zur Hauptabteilung Kultur, danach zu ARD Aktuell, wo sie zur Chefin vom Dienst bei der Tagesschau aufstieg und als eine von wenigen Frauen unter Männern gearbeitet hat. Die gendergerechte Sprache hat sie schon bei ARD Aktuell forciert. Ihr Anliegen: Wie lassen sich Nachrichten geschlechtsneutral formulieren?

 

Gleichstellung und Diversity

Nach einem Wechsel in die Abteilung Innovation und Strategie wurde sie 2012 Leiterin des Bereichs Gleichstellung und Diversity im NDR. Im Team mit drei Kolleginnen treibt sie das Thema senderweit voran, im Auftrag der Leitungsebene. Wie sie ein großes Medienhaus mit Erfolg zur Geschlechtergerechtigkeit bewegt, darüber gibt Nicole Schmutte im Interview Auskunft:

 

Der NDR gendert – wie ist das zu hören oder auch erleben?

Wenn Sie die Tagesthemen schauen, Ingo Zamperoni ist zum Beispiel ein Moderator, der immer beide Formen verwendet, männlich und weiblich. Sie erleben es beim Radiohören, wenn wir von „Mitarbeitenden“ und „Studierenden“ sprechen. Wenn wir sagen, dass „Erzieherinnen und Erzieher“ auf die Straße gehen. Früher haben wir nur von Erziehern gesprochen, obwohl diese Arbeit überwiegend Frauen machen, das war auffällig und falsch. Also im Radio, im Fernsehen oder auch online – wir verwenden viel die geschlechtsneutralen Formulierungen.

 

Wie reagiert das NDR-Publikum auf die Veränderungen im Sprachgebrauch?

Es gibt natürlich Zuschauerpost, wo es dann heißt: „Was soll dieser Genderwahn?“ und ähnliches. Das beantworte ich dann und weise darauf hin, dass es uns um Chancengleichheit geht, auch in der Sprache, und dass wir einen Auftrag haben, alle Menschen, die uns hören gleichermaßen anzusprechen. Darauf kommt dann kein Brief zurück und ich hoffe, dass meine Antwort Bewusstsein schafft.

Ich habe eine Broschüre für geschlechtergerechten Sprachgebraucht erstellt und ihr den Titel gegeben: „Sprache schafft Bewusstsein und Bewusstsein schafft Sprache.“ Das ist es doch, wenn wir das Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit haben, dann formulieren wir auch so. Wenn wir als Rundfunksender mit dieser Sprache nach außen gehen und die Menschen uns hören, dann schärft es auch ihr Bewusstsein. Ich hoffe, dass dieser Sprachwandel, der sicher eine lange Zeit brauchen wird, einen Kulturwandel bewirkt. Wie sie das macht, darüber spricht sie hier im Interview Auskunft:

 

Von wem ging die Initiative zur Einführung von gendergerechter Sprache aus?

Der Impuls kam von mir, und ich habe das Thema in der Intendanz und auf Direktionsebene eingebracht, denn es ist wichtig, dass dies Top-Down befürwortet und mit vorangetrieben wird – sonst ändert sich wenig. Aber auch einzelne Redaktionen haben sich immer wieder an mich gewandt, die wissen wollten, wie können wir es machen. Der Durchbruch war 2017 mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum dritten Geschlecht und dem Auftrag, „divers“ gesetzlich zu verankern. Da war es Fakt und musste nicht mehr durchgefochten werden.

Ich habe dann die Broschüre mit sprachlichen Empfehlungen erstellt. Wir wollen die genderkonforme Schreib- und Sprechweise niemandem vorschreiben, sondern mit gutem Rat Hilfestellung leisten allen, die sprachlich gendern wollen. Nachdem diese Sprachempfehlungen von den Direktorinnen und Direktoren auf oberster Leitungsebene abgesegnet worden sind, haben sie natürlich einen hohen Stellenwert.

Ich habe die Empfehlungen zunächst im NDR Intranet verbreitet, anschließend in diversen Informationsveranstaltungen zum Beispiel im Anschluss an Redaktionskonferenzen persönlich vorgestellt. Das waren und sind noch viele Termine, aber der Aufwand lohnt. Denn so kommt man direkt mit den Redaktionen ins Gespräch, die konkret an einem Tag zum Beispiel nach einer passenden Formulierung für die Schlagzeile suchen. Inzwischen gibt es einen öffentlichen Downloadlink zur Broschüre.

 

Wie läuft das hausintern beim NDR?

Wir nutzen gendergerechte Sprache sowohl für die interne Kommunikation, als auch für alle Schreiben, die nach außen gehen. Da ging es anfangs darum, alle Mitarbeitenden mit dem Genderstern vertraut zu machen, ohne dabei oberlehrerhaft zu wirken. Wir wollen niemandem etwas vorschreiben oder gar durch starre Vorgaben vergrätzen.

Ich mache es so, dass ich Beratung anbiete, wenn jemand noch unsicher ist. Auch bei einzelnen Formulierungen gibt es Hilfestellung. Das Schöne ist, als wir den Genderstern eingeführt haben, haben sich viele aus der Verwaltung gemeldet und gesagt, sie seien erleichtert, das ginge doch so viel einfacher und schneller.

Wir gehen soweit, dass wir unsere Softwareprogramme nach geschlechtlich markierten Formulierungen durchsuchen, also wenn das immer noch nur „Autor“ steht, dann nehmen wir uns vor, das mit dem nächsten Update sprachlich anzupassen.

Auch bei Stellenausschreibungen machen wir nun deutlich, dass wir offen sind für alle Geschlechter. In den Bewerbungsgesprächen, gerade bei jungen Leuten kommt das gut an, dass wir mit der Sprache unsere Willkommenskultur zeigen.

 

Reicht das Verteilen der Broschüre mit den Sprachtipps oder führen Sie Schulungen durch?

Keine klassischen Schulungen, sondern Gespräche. Ich gehe von Redaktion zu Redaktion. Je nach Bedarf intensivieren wir die Gespräche. Da kommen dann ganz tolle Diskussionen zustande. Schön, wenn es dabei solche Aha-Momente gibt – ach, ich kann den Satz ja auch anders formulieren. Gerade in unseren Hörfunkprogrammen gibt es eine interessante Auseinandersetzung mit der gesprochenen Sprache: wie kommt das, was ich am Mikrofon sage, bei den Menschen an, die mich hören? Wenn ich von Ärzten rede, die in weißen Kitteln über den Flur laufen, ist das etwas anderes, als wenn ich sage, Ärztinnen und Ärzte gehen über den Flur. Mit diesem schon oft zitierten Beispiel wird vielen die visuelle Kraft der Sprache bewusst, denn niemand kann das Bild, das sofort im Kopf entsteht, verleugnen.

Und in den Fernsehredaktionen wird deutlich, dass wir besser mit den Bildern umgehen müssen. Wenn ich auf dem Bildschirm Frauen sehe, muss ich sie auch benennen, sonst habe ich eine Text-Bild-Schere produziert.

 

Als gelernte Fernsehjournalistin – Haben Sie Tipps für die Praxis?

Wenn ich geschlechtsneutral formuliere, komme ich kurz und knackig zum Ziel, was beim Texten fürs Fernsehen wichtig ist. Wenn ich „Studierende“, „Beschäftigte“ oder einfach „das Plenum“ sage, passt das für alle, oder wenn ich „Menschen“ sage anstelle von Zuschreibungen für Männer und Frauen und alle Geschlechter. Dasselbe gilt für „Personen“, das ist doch auch schön kurz. Die meisten, mit denen ich in den Redaktionen spreche, geben uns das Feedback, dass es toll ist, sich mal wieder mit Sprache zu beschäftigen und zu hinterfragen, wie habe ich bisher getextet?

 

Gendersensibles Arbeiten im Journalismus geht viel weiter als nur auf die Sprache zu achten.

Das sehe ich auch so. Es geht darum Anregungen zu geben, um das Programm geschlechtergerechter zu machen. So schauen wir uns in den Infoveranstaltungen nach den Redaktionskonferenzen zum Beispiel mal die Planungen für den Tag oder die Woche an, welche Menschen werden zu Sendungen, Diskussionen und Panels angefragt. Dazu habe ich eine Diversity-Checkliste eingeführt. Damit können alle überprüfen – wen lade ich mir aufs Rote Sofa ein, wer sitzt in meiner Talkshow? Ist das so paritätisch besetzt, dass ich kluge Frauen dabei habe? Habe ich für meinen Beitrag auch eine Juristin befragt oder eine Expertin für das Klima, und nicht immer nur die altbekannten Herren, die sich in dem Feld auskennen.

Als wichtige Voraussetzung für annähernd paritätisch besetzte Talkshow-Runden oder vielfältige Interviewgäste haben wir im NDR unsere Expert*innendatenbank komplett überarbeitet, so dass ich anfragen kann, gibt es eine Frau mit Expertise für mein Thema, ist die aus den norddeutschen Raum, das ist für uns als NDR ja wichtig. Wir erleben auch, dass wenn wir eine kluge und eloquente Expertin präsentiert haben, sie ganz schnell in andere Programme weitergereicht wird.

Die verantwortlichen Kolleg*innen haben so viel Kraft und Energie in diese Datenbank gesteckt, dass die Vielfalt im Programm zu spüren ist. Das alles ist eine deutliche Qualitätssteigerung unserer journalistischen Arbeit.

Nicole Schmutte, ich danke für das Gespräch.

 

Tipps für Medienschaffende

NDR, Abt. Gleichstellung und Diversity:  Infomaterial zum Download

• „Sprache schafft Bewusstsein – Anregungen für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch“
• „Diversitycheck – Für mehr Vielfalt im Programm“

Alle Anregungen zum geschlechtergerechten Sprachgebrauch: Tipps & Tools
Machen Sie den Gendercheck, in jeder Phase Ihrer Medienproduktion

Portrait Christine Olderdissen

© Katrin Dinkel

Christine Olderdissen

Genderleicht & Bildermächtig Projektleiterin

Als das erste Mal eine Interviewpartnerin mit dem Glottisschlag sprach, war das für sie ein Signal: Schluss mit dem generischen Maskulinum, lieber nach einer sprachlichen Alternative suchen. Eine einfache und elegante Lösung findet sich immer. Lange Zeit Fernsehjournalistin galt ihr Augenmerk schon immer der Berichterstattung ohne Stereotype und Klischees.

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