Gendern im Radio: Vielfalt On Air

von | 3. September 2020 | Erfahrungsberichte, Gendern im Journalismus, Medienschau

Was zum Start von Genderleicht.de vor mehr als einem Jahr wohl die Wenigsten für möglich gehalten hätten, ist nun Realität geworden: Seit dem 1. September 2020 ist das Gendersternchen erstmals in den Hörfunknachrichten eines deutschen Radiosenders verbindlicher Standard. Bei Radio Fritz, dem jungen Sender vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), sollen fortan Frauen und andere Geschlechter explizit angesprochen werden. Damit sind sie nicht länger nur ‚mitgemeint‘. Anlass für Genderleicht.de, sich in der deutschen Radiolandschaft umzuhören – denn auch bei anderen Sendern wird immer öfter gegendert, wenn zunächst eher noch auf freiwilliger Basis.

Teil 1: Genderwelle – wer surft mit?

Gendern im Radio bedeutet: Frauen, Männer und Menschen, die trans, intersexuell oder genderqueer sind, klar zu benennen. Statt einfach die männliche Form bei Menschengruppen zu verwenden, wie es lange Zeit üblich war, wird bei einigen Sendern verstärkt in Moderationen, gebauten Beiträgen, Gesprächen und Interviews sorgfältig darauf geachtet, die Vielfalt der Geschlechter abzubilden. Zum Einsatz kommen Beidnennung, neutrale Wörter und Partizipialkonstruktionen. Selbst das Gendersternchen ist in einigen Hörfunkredaktionen angekommen – als kleine Sprechpause zwischen dem männlichen Wortstamm und der weiblichen Endung bei einer Personenbezeichnung. Der sogenannte ‚Glottisschlag‘, das geschwiegene Gendersternchen, soll signalisieren: hier sind auch jene gemeint, die sich sprachlich bislang nicht optimal abbilden lassen, weil sie weder Mann noch Frau sind.

Bei „Fritz“ ist Gendersternchen in den Nachrichten jetzt Standard

Ganz vorn dabei in Sachen Gendern ist der Radiosender Fritz vom öffentlich-rechtlichen rbb. Hier geht es neben der expliziten Nennung von Frauen auch darum, die Existenz weiterer Geschlechter ins Bewusstsein zu rufen. Das Gendersternchen war zwar schon immer wieder mal zu hören, doch nun ist es nicht mehr nur eine Sprechvariante einiger weniger, sondern offizielle Standardform – zumindest in den Nachrichten. In Beiträgen und Moderationen kann selbst entschieden werden, ob und wie gegendert wird. Die Motivation für diesen Vorstoß fasst Fritz-Programmchefin Karin Schmied gegenüber Genderleicht so zusammen: „Wir wollen unsere Haltung zeigen für Vielfalt, Gleichberechtigung, Offenheit und Toleranz.“

Warum die Redaktion gerade in den Nachrichten aufs Gendersternchen setzt, hat vor allem pragmatische Gründe: „Wir gendern bereits mit beispielsweise ‚Lehrerinnen und Lehrer‘. Auch die ‚sächliche‘ Form wie ‚Lehrende‘ verwenden wir, finden diese aber sehr unpersönlich und in dem Fall auch ungenau, denn damit könnten alle Menschen gemeint sein, die etwas lehren.“ Doch gerade dort, wo es darauf ankomme, präzise zu sein, sei Gendern wichtig: „Die Nachrichten sind das seriöse Gut der meisten Radiosender: Sie sind pünktlich, werden knapp und auf den Punkt getextet, hier hören die Menschen aufmerksam zu. Und sie sind neutral, haben keine Wertung. Da denken wir, passt es perfekt hin.“

Fritz ist somit der erste Radiosender im ARD-Verbund, der in den Nachrichtensendungen durchgehend aufs Gendern setzt. Es ist eine Entwicklung, die auch dadurch begünstigt wurde, dass Redaktionsteam und Leitungsebene gleichermaßen die Notwendigkeit hierfür gesehen haben. Für die junge Zielgruppe im Alter von 14 bis 29 Jahren sei gendergerechte Sprache ein wichtiges Thema, sagt die Programmchefin. Zudem werde das Gendersternchen zunehmend in E-Mails, Stellenausschreibungen und anderen Schriftformen verwendet und ist dadurch ohnehin im Alltag immer präsenter, wie Karen Schmied beobachtet hat. Die Kritik, dass das diese Art zu gendern im Hörfunk nicht gut klinge, lässt sie nicht gelten: „Wir haben es einfach ausprobiert und sind der Meinung: Doch, das funktioniert sogar im Radio.“

DLF Kultur und DLF Nova versuchen‘s auf die ‚sanfte Tour‘

Die Deutschlandradio-Programme Deutschlandfunk Nova und Deutschlandfunk Kultur sind gegenüber geschlechtergerechter Sprache On Air ebenfalls aufgeschlossen. Das Gendern mit Mini-Sprechpause ist hier schon seit einer ganzen Weile immer wieder zu hören. Einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben Empfehlungen erarbeitet, die Intendant Stefan Raue an das gesamte Team versandt hat – als Anregung, nicht als Vorgabe, wie Birgit Wentzien gegenüber Genderleicht betont. Die Deutschlandfunk-Chefredakteurin ist überzeugt, dass starre Regeln nur das Gegenteil bewirken würden: „Niemand muss, aber wer mag, kann sich durch unsere Empfehlungen inspirieren lassen. Das Sprachgefühl meiner Kolleginnen und Kollegen entscheidet, ihre sprachliche Varianz und Sprachmelodie, ihre Anmutung und Verständlichkeit.“

Statt Vorgaben: Offenheit gegenüber verschiedenen Methoden

Im Deutschlandfunk bedeutet eine grundsätzliche Offenheit gegenüber geschlechtersensibler Sprache nicht, dass alle nun mit Glottisschlag sprechen, sagt Birgit Wentzien: „Aus meiner Sicht kann ich für geschlechtergerechte Sprache sein und im Hörfunk den Genderstern ablehnen. Hörbarkeit und Verständlichkeit sind oberste Richtschnur.“ Sie findet es für ihre Redaktionen wichtig, „dass wir uns mit gerechter, fairer Sprache auseinandersetzen und auch mal etwas ausprobieren“. Denn sie ist überzeugt: „Sprache formt Wirklichkeit. Und es kommt uns bei unserem wichtigsten Instrument, der Sprache, auf Vielfalt und Gerechtigkeit an. Als Gesellschaft stecken wir mitten in der Diskussion über dieses Thema.“ Grund genug, diese Debatte auch in den Deutschlandfunk-Sendungen abzubilden.

Radioeins: Kreativer Umgang mit Sprache ist wichtig

Bei radioeins vom rbb tut sich ebenfalls was, wie Wortchefin Dorothee Hackenberg bestätigt: „Wir betrachten gendergerechtes Formulieren als lebendigen Prozess. Das generische Maskulinum ist längst nicht mehr Standard.“ Im Programm werden als Konsequenz geschlechtsneutrale Formen ebenso wie die Beidnennung verwendet. Auch Moderationen werden immer mal wieder mit Gender-Gap bzw. -Lücke gesprochen. Von oben verordnete Sprachreglungen, wie zuweilen von Menschen vermutet wird, die gendersensible Sprache als Genderwahn oder als Verhunzung der Sprache ablehnen, gibt es auch bei radioeins nicht: „Wir wollen keine allgemeingültige Sprachregelung zu einem Stichtag verordnen, wichtiger ist uns ein sensibler und kreativer Umgang mit Sprache,“ so Dorothee Hackenberg. Und dazu gehöre eine gewisse Flexibilität: „Wichtig ist uns ein authentischer Umgang mit Sprache im Radio. Einige sprechen das Sternchen, andere nicht“. Eine Freiheit, die offenbar in verschiedensten Sendebereichen Wirkung zeigt: „Ob in den Nachrichten oder in der Fläche: Wir regen an, mehr Sprachsensibilität zu zeigen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, über Stigmatisierungen und Vorurteile nachzudenken“. Die radioeins-Wortchefin geht fest davon aus, „dass gendergerechtes Formulieren mit der Zeit eher eine Selbstverständlichkeit als eine Ausnahme sein wird.“

SWR: Kein Schema F

Faire Sprache ist auch beim Südwestrundfunk (SWR) ein Thema, allerdings etwas subtiler. Seit Oktober 2019 gibt es zwar einen internen Leitfaden, doch die Diskussion zum Gendern in der gesprochenen Sprache ist bislang nicht abgeschlossen, wie Gabor Paal, Redaktionsleiter von SWR2 Wissen auf Genderleicht-Anfrage mitteilt. Verschiedene Bereiche gehen unterschiedlich damit um. „Ich persönlich rechne nicht damit, dass es eines Tages eine einheitliche detaillierte Sprachvorgabe für den gesamten SWR geben wird. Der SWR macht sein Programm schließlich für sehr unterschiedliche Publika mit jeweils eigenen Hörgewohnheiten, die bei diesen Überlegungen ja auch berücksichtigt werden müssen.“

Für SWR2 Wissen kann der Redaktionsleiter sagen, dass sich das Team um eine faire und damit auch geschlechtergerechte Sprache bemüht. „Hinter diesem Anliegen steht die gesamte Redaktion.“ Allgemeingültige Vorgaben zum Gendern im Radio gibt es in der Redaktion dennoch nicht: „Ein Schema F hilft hier, glaube ich, nicht weiter“, ist Gabor Paal überzeugt.

Verständlichkeit steht an erster Stelle

Faire Sprache soll nicht auf Kosten der Verständlichkeit gehen, hier ist Sprachgefühl gefragt. In seiner schriftlichen Antwort verdeutlicht Gabor Paal das am folgenden Beispiel: „Wir in SWR2 Wissen erwarten von unseren Autor*innen eine möglichst gendergerechte, aber zugleich eingängige, verständliche Sprache, die bemühte Partizipialkonstruktionen wie ‘Die Forschenden‘ vermeidet, ebenso wie umständliche Formulierungen, etwa ‚Die Forscherinnen und Forscher beobachteten Schülerinnen und Schüler …‘. Da gibt es ja wirklich meist elegantere Wege.“ Diese Wege zu finden, meint er, sei Aufgabe der Autoren und Autorinnen. In einem internen Leitfaden für SWR Wissen-Produktionen vom 06. Dezember 2019, in dem es neben formalen, dramaturgischen und inhaltlichen Anforderungen auch um „elegante gendergerechte Formulierungen“ geht, verweist das Team übrigens auf Genderleicht.de als Website, die „kreative Anregungen zum gender-gerechten Schreiben bietet.“

Damit, wie bei SWR2 Wissen gendersensible Sprache mittlerweile umgesetzt wird, ist Redaktionsleiter Gabor Paal zufrieden. „Aber wer will, wird sicher auch bei uns Einzelfälle finden, in denen wir nicht konsequent sind – denn, wie gesagt, eine möglichst irritationsfreie Verständlichkeit ist uns auch wichtig.“

Das Publikum ist geteilter Meinung

„Die einen beschweren sich, dass zu wenig gegendert wird. Die anderen fühlen sich von zu viel vermeintlicher politischer Korrektheit irritiert und abgelenkt. Letzteres kann aber für uns kein Grund sein, diskriminierend zu sprechen“, so Gabor Paal über Reaktionen aus der SWR2-Wissen-Hörerschaft. Auch als die Gendersternchen-Pläne von „Fritz“ bekannt wurden, ließen die Rückmeldungen nicht lange auf sich warten: „Es ist ein sehr emotionales Thema, wie wir es in den letzten Tagen seit unserer Ankündigung erlebt haben. Lover & Hater, etwa 50/50 als Fazit der wahnsinnig vielen Reaktionen, die uns erreicht haben“, verrät Fritz-Programmchefin Karen Schmied gelassen.

Die Entwicklungen zum Gendern im Hörfunk werden mittlerweile häufiger in verschiedenen Radiosendungen thematisiert, auch von Sendeanstalten, die bislang offiziell nicht gendern, wie der Westdeutsche Rundfunk (WDR). Das Medienmagazin „Töne, Texte, Bilder“ von WDR5 hat, angeregt von der Radio Fritz Ankündigung, seine Hörerschaft befragt, was sie vom Gendern hält. Ergebnis: Eine knappe Mehrheit war dafür, dass auch im Medienmagazin gegendert wird. Anlass für Moderator Sebastian Sonntag, es in der Sendung vom 29. August 2020 zu versuchen – passend zum Thema.

Zu Gast war Friederike Sittler, die als Vorsitzende des Journalistinnenbundes die Onlineplattform Genderleicht.de redaktionell verantwortet. In der Sendung bezog sie Stellung zu den verschiedensten Zuschriften aus der Hörerschaft zum Thema Gendern. Die Meinungen gehen stark auseinander: So wurde eine Hörerin zitiert, die zwar durchaus die Beidnennung schätzt, der aber das Gendern mit Lücke „in den Ohren schmerzt“. Ihrer Einschätzung nach sei der Anteil von nicht binären oder diversen Menschen so gering, dass sie glaubt: es gibt kaum Menschen, die sich von „meine Damen und Herren“ nicht angesprochen fühlen. Eine andere Hörerin hingegen schrieb: „Ich finde es toll, dass es endlich langsam normal wird, gegendert zu sprechen.“

Vielfalt On Air nimmt zu

Konsequentes Gendern im deutschen Hörfunk ist bisher die Ausnahme. Die beschriebenen Beispiele zeigen allerdings: Es ist grundsätzlich möglich und machbar und wird von Teilen des Publikums begrüßt. Die Pionierarbeit von Radiosendern, die sich für gendersensiblen Journalismus einsetzen, wird mit Interesse wahrgenommen und breit diskutiert – von denen, die zuhören und denen, die Radio machen. Es kann also gut sein, dass weitere Radiosender diesem Weg folgen werden und künftig verstärkt auf gendersensiblen Journalismus bei ihren Recherchen und bei der Präsentation der Inhalte achten werden.

 

Immer donnerstags: Die Blogserie geht weiter

In den nächsten Teilen der Genderleicht-Reihe „Gendern im Radio“ geht es ums Handwerkszeug: Radiojournalistinnen und Radiojournalisten erzählen kommende Woche, welche besonderen Herausforderungen sie beim Gendern bewältigen und warum ihnen Geschlechtergerechtigkeit wichtig ist. Praxistaugliche Tipps zum Gendern bei konkreten Darstellungsformen liefert die Genderleicht-Reihe in der dritten Woche. 

Gendern im Radio, Teil 2

Motive und Möglichkeiten

Gendern im Radio, Teil 3

Zehn Tipps für die Praxis

Radiosendungen zum Gendern im Hörfunk

„Gender auf dem Sender“
Deutschlandfunk: Sendung „Streitkultur“ vom 27.06.2020, Moderation: Karin Fischer

„Hörerfeedback zu Gendern“
WDR 5 Töne, Texte, Bilder vom 29.08.2020. 07:10 Min. mit Friederike Sittler (nicht mehr online) 

Portrait Katalin Vales

Katalin Vales

REFERENTIN GENDERLEICHT.DE

Sie kennt Print- und Hörfunkredaktionen von innen und stand dem Gendern anfangs skeptisch gegenüber. Doch die vielen Argumente dafür haben die freie Journalistin überzeugt. Inzwischen formuliert Katalin Valeš gendersensibel und hat festgestellt: es geht sehr gut und macht Spaß.

Ideen und Impulse

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Gezeichnete Glaskolben wie aus einem Chemielabor weisen auf das Serviceangebot des Textlabors hin: Hier bespricht das Team Genderleicht knifflige Textfragen.

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