„Wie ist der Gender-Doppelpunkt für Blinde?“

von | 12. November 2020 | Praxistipps

Auf einem roten und lilafarbenen Hintergrund steht mit schwarzen Punkt in Brailleschrift das Wort "Doppelpunkt"

Der Doppelpunkt in Brailleschrift. So sieht er für Sehende aus. / Fotomontage: Anna E. Poth

Informationen unter dem Interview:
aktualisiert im Januar 2024

„Das Gendersternchen ist nicht barrierefrei!“ Das ist eine häufig gehörte Kritik. Denn auch sehbehinderte Menschen sollten Zugang zu Texten haben, die sich um Geschlechtergerechtigkeit bemühen.

Es trifft zu: Im Internet wird die Barrierefreiheit oft vernachlässigt. Domingos de Oliveira ist als blinder Redakteur eher zufällig auf das Thema gestoßen. Seine Auftraggeber*innen übertrugen ihm die Aufgabe, Texte und Webseiten auf Barrierefreiheit für Sehbehinderte zu prüfen. Aktuell berät Oliveira als Accessibility Consultant Organisationen wie „Aktion Mensch“ und „Der Paritätische NRW“. Auch kleinere Vereine und Institutionen arbeiten mit ihm zusammen.

 

Gendersensibel und barrierefrei – geht das?

Wir haben Domingos de Oliveira zu Screenreadern und Barrierefreiheit befragt. Er hat das Handbuch „Barrierefreiheit im Internet“ geschrieben. Auf seiner Website netz-barrierefrei.de setzt er sich ausführlich mit gendergerechter Sprache und Barrierefreiheit auseinander.

 

Gendersensibles Schreiben hat aktuell noch viele Variationen. Welche Art ist für barrierefreies Texten am besten geeignet?

Unter Sehbehinderten sage ich immer, dass der Doppelpunkt von der Lesbarkeit her am besten ist. Er wird standardmäßig von der Screenreader-Software gut vorgelesen. Da ist der klare Vorteil, dass man wenig aus dem Lesefluss herausgerissen wird.

Aktuell geht es dahin, dass viele Leute beim Schreiben das Sternchen verwenden. Es wäre gut, wenn sich eines der Sonderzeichen irgendwann etabliert hat. Es ist für uns als Sehbehinderte einfacher, nur mit einem Sonderzeichen umzugehen. Also persönlich tendiere ich zum Doppelpunkt. Mit dem Gendersternchen kann ich aber auch umgehen.

Wie hört sich eigentlich ein Screenreader beim Gendern an?
Domingos de Oliveira hat auf YouTube und auf seiner Website
ein Hörbeispiel für alle Genderformen veröffentlicht.

 

Wie sieht es in der Entwicklung der Screenreader in Punkto Genderzeichen aus?

Da tut sich jetzt nichts weiter. Jeder Screenreader lässt sich aber konfigurieren, sodass festgelegt werden kann, welches Zeichen gesprochen werden soll.

Einen weiteren umfassenden Screenreadertest hat
Digital Accessibility Consultant Taner Aydin durchgeführt und
im April 2021 veröffentlicht. Eine hochinteressante Zusammenstellung.

 

Ist dieses Programmieren des Screenreaders kompliziert? Oder wo gibt es dazu Tipps?

Wer ein bisschen programmieren kann, kann schon einstellen, dass in bestimmten Kontexten Zeichen vorgelesen werden sollen und in anderen nicht. Zum Beispiel, wenn ein Sternchen mitten im Wort steht, dann soll es nicht vorgelesen werden und wenn ein Sternchen am Ende steht, dann soll es vorgelesen werden. So etwas lässt sich schon lange konfigurieren. Man muss sich nur ein bisschen damit beschäftigen.

 

Zeichnet sich eine Möglichkeit ab, dass Screenreader mit mehreren Typen von Genderzeichen zurechtkommen?

In den verschiedenen Screenreader-Programmen gibt es zwar durchaus Unterschiede, aber gerade diese Ausspracheregeln sind alle relativ ähnlich. Was das Thema Aussprache angeht, ist es eigentlich ausentwickelt. Das ist ja ein Thema, das die Leute schon 20 bis 30 Jahre lang beschäftigt. Da wird sich auch nichts mehr tun. Die Herstellerfirmen sagen einfach: Ihr müsst selbst konfigurieren, wie ihr das haben wollt.

 

Was empfehlen Sie für den Aufbau einer Website, damit sie barrierefrei ist?

Wichtig aus der Perspektive der Barrierefreiheit ist es auf Einfachheit zu achten. Vor allem immer im Blick haben, dass ich als User vielleicht weniger machen kann, anstatt mehr. Auch in Bezug auf Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer ist Einfachheit gut. So ist die Webseite gleich direkt für Smartphones optimiert.

Ein möglichst guter Kontrast beim Bedienfeld und für Elemente ist unumgänglich. Und das Thema Tastaturbedienbarkeit ist auch sehr wichtig, weil manche Menschen Webseiten nur mit Tastaturen bedienen können. Also vor allem bei interaktiven Sachen wie Navigation oder bei Kontaktformularen sollten die Elemente einfach mit der Tastatur zu bedienen sein.

Generell sage ich immer, dass eine Webseite mehr Inhalte zum Scrollen haben soll als zum Klicken. Dadurch gibt es mehr Content auf einer Seite und weniger Unterseiten, so dass die Nutzenden wahrscheinlich auch länger auf der Webseite bleiben.

Danke für das Gespräch!

 

Wenn, dann mit Genderstern?

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) empfiehlt in seiner Leitlinie zum Gendern (März 2021) weitgehend auf Genderzeichen zu verzichten und lieber mit den Mitteln der Sprache, z. B. mit genderneutralen Wörtern, geschlechtliche Vielfalt zu verdeutlichen. Für Kurzformen rät er zum Genderstern.

Studie zur Barrierefreiheit

Die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT) hat eine repräsentative Studie zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache erstellt (August 2021). Zur gesellschaftspolitischen Dimension trifft der BFIT-Bund keine Aussage, ob und welches Genderzeichen das bessere wäre (November 2023).

Jetzt wird’s praktisch

Informationen von „Aktion Mensch“ zur Erstellung einer barrierefreien Website: Einfacher für alle Menschen!

Gendern ist nicht für für Blinde schwierig

Domingos de Oliveiras weist darauf hin, dass Genderzeichen auch Menschen im Autismus-Spektrum oder mit kognitiven Einschränkungen Schwierigkeiten bereiten. Gendersensibel schreiben ist dennoch möglich:

Barrierefrei gendern

Was soll ich beachten?

Gendern in Leichter Sprache

Portrait Anna E. Poth

© privat

Anna E. Poth

REFERENTIN GENDERLEICHT.DE

Anna E. Poth diskutiert viel und gerne, um andere Leute zum Umdenken und Hinterfragen anzustoßen. Das gendergerechte Sprechen lässt sie auch als Theaterregisseurin noch sensibler auf ihr Gegenüber eingehen. Ihre journalistischen Projekte können zudem auf der Bühne wiedergefunden werden.

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