Meine Mutter hätte sich nie als arm bezeichnet, obwohl sie mit ihrer monatlichen Witwenrente von rund 1100 Euro um 150 Euro unter der von der Bundesregierung definierten Altersarmutsgrenze lag. Knapp 18 Prozent der Menschen im Rentenalter müssen mit weniger auskommen. Tendenz steigend. Dass sich meine Mutter trotzdem Reisen, Theaterbesuche oder Essen gehen mit den Freundinnen leisten konnte, lag daran, dass sie mietfrei wohnte. Das Elternhaus, in dem sie ihr ganzes Leben verbrachte, hatte zwar ihr Bruder als einziger Sohn geerbt – so war das auf dem Land lange Zeit üblich – aber immerhin stand ihr ein lebenslanges Wohnrecht zu. Hätte sie Miete zahlen müssen, womöglich in einer teuren Stadt, hätte ihre Situation ganz anders ausgesehen. Wohngeld oder andere staatliche Leistungen zu beantragen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. „Ich bin doch kein Sozialfall!“ hätte sie vermutlich gesagt. Zum Amt gehen und sich als bedürftig ausweisen, gilt vielen in dieser Nachkriegsgeneration als Schande.
Altersarmut ist ein großes Thema in den Medien
Oft werden düstere Schreckensszenarien entworfen und mitunter rechtspopulistisch ausgeschlachtet, nach dem Motto: Deutsche, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet haben, müssen nun Flaschen sammeln oder zur Tafel gehen, um über die Runden zu kommen. Auf der anderen Seite gibt es immer noch das Klischee der fröhlichen Rentner*innen, die ihre üppige Rente für Kreuzfahrten ausgeben und oder in Mallorca überwintern.
Klischee 1: Arm in der Rente
Klischee 2: Reich in der Rente
Medienberichte zwischen Klischee und Panikmache
Ich wollte wissen: Wie bebildern die Medien das Thema Armut im Alter? Schon eine kurze Recherche zeigt: Die beliebtesten Motive sind die Flaschensammlerin und ältere Menschen, die sich ihre Lebensmittel bei der Tafel holen. So behauptet die Süddeutsche Zeitung zwar, das Gerede von Altersarmut sei reine Panikmache, verwendet zur Illustrierung aber gleichwohl das Foto einer Seniorin, die in einem Abfalleimer nach Pfandflaschen sucht.
Die Tafel Deutschland selber macht vor, dass es anders geht. Statt sorgenvolle Gesichter zeigt sie zwei gut gelaunte Seniorinnen, die zusammen basteln und dabei offenbar Spaß haben.
Wenn das Geld im Alter knapp ist: Kreative Bildalternative
Nehmen wir das Bild von der Seniorin vor dem Kühlregal im Supermarkt. Mit der Steppweste und dem Basecap macht sie einen flotten, fast sportlichen Eindruck. Die Armut sieht man ihr nicht an, sie wirkt gepflegt. Der Einkaufszettel in der Hand deutet darauf hin, dass sie auf die Preise achten muss. Vielleicht überlegt sie, ob es wirklich die Marken-Tiefkühlpizza sein muss oder ob die Butter woanders günstiger ist.
In meiner Familie war es üblich, die Anzeigenblätter nach Sonderangeboten zu durchforsten. Wir konnten uns vieles von dem, was für meine Freundinnen selbstverständlich war, nicht leisten, beispielsweise Obst. Dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass das nach außen nicht sichtbar wird. Mit Löchern im Pullover oder zerschlissenen Schuhen hätte uns meine Mutter nie in die Schule geschickt. Es gilt als Schande, arm zu sein, damals in den 1970ern wie heute.
Zurück zur Seniorin vor dem Kühlfach: sie wird in diesem Foto als aktiv handelnde Person dargestellt und dadurch können wir uns eher mit ihr identifizieren. Sie ist uns näher als die ärmlich gekleidete Pfandflaschensammlerin oder die Obdachlosen vor dem Bahnhof. Solche Bilder können wir leichter wegschieben und als Randerscheinung abhaken.
Mehr als Rollator und Rente
Altersbilder in den Medien
Kreative Bildersuche
Tipps für die Praxis
Blinder Fleck: Altersarmut bei Eingewanderten
Noch etwas fällt mir auf: Nicht-Weiße kommen beim Medienthema Altersarmut so gut wie nicht vor. Dabei ist gerade die Generation der ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in erschreckendem Maße von Armut betroffen, wie eine Studie der Hans Böckler Stiftung von 2014 zeigt. 41,8 Prozent sind im Rentenalter von Armut bedroht, bei den Türkeistämmigen sogar fast 55 Prozent.
Nach Jahrzehnten harter körperlicher Arbeit am Fließband oder im Schlachthof bekommen Männer eine durchschnittliche gesetzliche Rente von 834 Euro, Frauen sogar nur 661 Euro (Zahlen der Deutschen Rentenversicherung für 2022). Für die angeworbenen Gastarbeiterinnen blieb nur ein bestimmtes Spektrum unattraktiver Arbeitsplätze, es waren vor allem un- und angelernte Tätigkeiten, etwa in der Textil- und Nahrungsindustrie sowie als Hilfskräfte in Großküchen und Krankenhäusern.
Arbeit trotz Rente
Ob als Senior Professional, Mentor*in oder Minijobber*in – immer mehr Menschen bleiben auch im Ruhestand beruflich aktiv. Das hat nicht immer finanzielle Gründe. Viele möchten geistig fit bleiben, oder sie schätzen die sozialen Kontakte. Außerdem führt der Fachkräftemangel dazu, dass Berufserfahrung und Fachkompetenzen der älteren Generation immer gefragter werden. Viele betreuen beispielsweise in ihrer alten Firma Auszubildende als Mentor oder Mentorin. Waren laut Statistischem Bundesamt 2013 in Deutschland noch 13 Prozent der 65- bis 69-Jährigen berufstätig, lag ihr Anteil im Jahr 2022 bereits bei 19 Prozent – und damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 14 Prozent.
Ist das ein Armutszeugnis für ein – immer noch – reiches Land? Kommt darauf an. Wer gesundheitliche Einschränkungen hat, aber gezwungen ist, einen Putzjob anzunehmen oder Zeitungen auszutragen, wird das vielleicht anderes bewerten als eine körperlich und geistig fitte Person, die ihr Fachwissen an jüngere Leute weitergibt oder an der Volkshochschule Griechisch unterrichtet. Aber es geht nicht nur darum, ob es sich um hochqualifizierte Tätigkeiten handelt. Auch die Arbeit als Küchenhilfe in der Kita kann sinnstiftend und befriedigend sein. Das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden, verschafft fast allen Menschen eine tiefe Befriedigung.
Bebildert werden Beiträge zum Thema „Weiter arbeiten trotz Rente“ häufig mit Tätigkeiten wie Putzfrau – und sind damit eher negativ konnotiert. Geht es um höher gestellte Tätigkeiten, ist die Darstellung viel differenzierter und „sympathischer“.
Das Beispiel von Gaby, 71, Minijobberin und glücklich
Immer mehr Menschen im Rentenalter verdienen sich noch etwas dazu. Ist das eine Schande? „Überhaupt nicht“, findet Gaby, 71 Jahre alt. Seit sechs Jahren ist sie in einer Berliner Rechtsberatungsstelle auf Minijobbasis angestellt. Sie arbeitet den Anwält*innen zu, vereinbart Termine und hilft beim Ausfüllen von Formularen. „Ich würde mit meiner Rente gerade so hinkommen, könnte mir aber keine Extras leisten“, erklärt sie. Mit dem zusätzlichen Geld kann sie sich mal ein Wochenende an der Ostsee oder eine Konzertkarte gönnen. Die Arbeit sei körperlich nicht anstrengend und nur selten stressig. Zudem sei das Team nett. „Ich mag den Kontakt zu Menschen und ich lerne hier immer etwas Neues dazu“, sagt Gaby. Im Team sind viele über 70, sogar eine 80-Jährige ist dabei.
Definition von Armut
Armut zu messen, ist schwierig, vor allem im globalen Vergleich. Nach einer Definition der Weltbank sind Menschen extrem arm, wenn sie weniger als 2,15 US-Dollar zur Verfügung haben. Die Kaufkraft des US-Dollars wird dabei in lokale Kaufkraft umgerechnet. Nach Schätzungen leben rund 700 Millionen Menschen weltweit in extremer Armut. Sie haben nicht einmal das Nötigste zum Überleben.
Diese Defintion ist nicht umunstritten. Schließlich ist Armut nicht nur an Mangel an finanziellen Ressourcen, sondern auch an Bildungschancen und Zugang zu ärztlicher Versorgung.
Armut ist mehr als Geldsorgen
Grundsätzlich wird unterschieden zwischen absoluter und relativer Armut. Absolute Armut bedeutet, dass nicht einmal die Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnen gedeckt werden können. Relative Armut bezieht sich stärker auf die Möglichkeiten der Teilhabe in einer Gesellschaft. Wer relativ arm ist, hat zwar genug zu essen und ein Dach über dem Kopf, kann sich aber beispielsweise keine Konzertkarte, keinen Schwimmbadbesuch oder keinen Nachhilfeunterricht für die Kinder leisten. Armut führt daher auch zu einem sozialen und kulturellen Mangel und damit auch zu Einsamkeit. Nach der EU-Defintion gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat.
→ Mehr über Armut im Online-Lexikon des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Zu allen Zeiten und in vielen Kulturen hat es übrigens selbstgewählte Armut gegeben. Für Sadhus in Indien oder Mönche und Nonnen im Christentum ist die Askese, der freiwillige Verzicht auf irdische Güter, eine Tugend, die zu Gott führt. Eigentum ist in diesem Kontext eher eine Bürde.
Wir brauchen mehr Vielfalt bei Berichten über Armut
Fazit: Das so wichtige Thema Altersarmut verdient eine vielfältigere Darstellung als die immergleichen Bilder vom Schlange stehen bei der Tafel. Einseitig-pessimistische Szenarios sind genauso zu vermeiden wie eine Verharmlosung der Armut. Ältere Menschen als selbstbestimmte Akteurinnen und Akteure zu zeigen, die für ihre Rechte demonstrieren, im Internet Schnäppchen machen oder sich bei Stadtführungen etwas dazuverdienen, würde das Klischee der passiven Alten ein Stück weit aufbrechen.

Birgit Leiß
Gastautorin
Als freie Journalistin berichtet Birgit Leiß schwerpunktmäßig über so staubtrockene Themen wie Stadtentwicklung und Wohnungspolitik. Wenn sie nicht gerade Bauskandalen auf der Spur ist, sitzt sie in dunklen Kinosälen oder pflückt Kaffee in Südindien. Ihr ultimativer Filmtipp: „Finding Vivian Maier“ über die großartige Straßenfotografin, deren Werk erst zufällig nach ihrem Tod entdeckt wurde.