Ein Werkstattbericht
Genderleicht.de hat meine Arbeit als freie Journalistin schon nach kurzer Zeit grundlegend verändert. War ich anfangs noch skeptisch, ob sich gendersensibler Journalismus tatsächlich umsetzen lässt, haben mich all die Studien, die vielen guten Artikel in Qualitätsmedien und unsere täglichen Gespräche im Genderleicht-Projektteam nach und nach überzeugt. Ich fand bald, dass es an der Zeit war, es selbst auszuprobieren.
Gendersensibler Journalismus – kann das funktionieren?
Würden meine Auftraggeberinnen und Auftraggeber positiv darauf reagieren? Eine Frage, die ich inzwischen mit „Ja!“ beantworten kann. Denn ich begann, das selbst umzusetzen, was wir auf Genderleicht.de empfehlen – in meinen Hörfunkfeatures für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in Printartikeln für eine regionale Tageszeitung. Einige der gewonnenen Erkenntnisse möchte ich hier teilen.
Ansatz 1: Rollenstereotypen auf den Grund gehen
Der Stein des Anstoßes
Grundschulkinder nehmen Berufe anders wahr, wenn sie ihnen sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Form präsentiert werden. Das hat eine Studie von Dries Vervecken und Bettina Hannover gezeigt. Allerdings zeigte die Studie auch: Wurden Berufe mit der weiblichen Berufsbezeichnung präsentiert, schätzten die Kinder sie als weniger wichtig, leichter erlernbar und als schlechter bezahlt ein, als wenn nur die männliche Bezeichnung des Berufs genannt wurde.
Doch warum werten Kinder einen Beruf in dem Moment ab, wo sichtbar wird, dass auch Frauen ihn ausüben können? Für mich war diese Studie der Beginn einer spannenden Recherche, in der ich mich mit den Ursprüngen von Rollenstereotypen, die sich nachteilig für Mädchen und Frauen auswirken können, auseinandergesetzt habe und mit der Frage: Wie fühlen sich eigentlich jene, die dieser vermeintlichen „Norm“ nicht entsprechen?
Meine Zielgruppe
Kinder, Familien und pädagogische Fachkräfte – und auch Menschen, die Kinderprodukte herstellen, vermarkten und verkaufen.
Die Umsetzung
Für den Kinder-Radiokanal Kiraka vom Westdeutschen Rundfunk (WDR 5) war ich mit Grundschulkindern in der Bochumer Innenstadt unterwegs. Dort haben wir uns Kinderprodukte im Spielwarengeschäft, im Supermarkt und in einem Laden für Anziehsachen angeschaut. Für die Kinder wenig überraschend: Produkte für Jungen und Mädchen unterscheiden sich stark in der Art und Weise, wie die Verpackungen gestaltet sind: wilde Abenteurer, sportliche Fußballer, mutige Piraten, smarte Naturwissenschaftler in allen erdenklichen Blau-Grün-Braun- und Rottönen für die Jungen; rosa Feen und niedliche Glitzer-Prinzessinnen samt Einhorn für Mädchen. Egal ob Cornflakes, Duschbad, Bücher oder Spielzeug – alles gibt es einmal für Jungs und einmal für Mädchen. Gendermarketing nennt sich diese inzwischen sehr verbreitete Verkaufsstrategie.
Was es damit auf sich hat, erklärt kindgerecht die Wirtschaftsprofessorin Marion Halfmann. Was sich die Bochumer Grundschulkinder bis dahin nie gefragt haben: Warum könnte dieses Gendermarketing für Kinder schlecht sein? Wieso sollte es Kindern schaden? Das erklärt Sascha Verlan, der ein Buch über die „Rosa-Hellblau-Falle“ geschrieben hat und die Einteilung in „typisch Junge“ und „typisch Mädchen“ gar nicht gut findet. Außer ihm kommt auch Stevie Schmiedel von „Pink Stinks!“ zu Wort, die sich mit ihrer Protest- und Bildungsorganisation gegen Sexismus und Homophobie einsetzt und wunderbar kindgerecht erzählt, welche Nachteile Kinder durch Gendermarketing haben können. Aber auch Unternehmen, die selbst Gendermarketing betreiben, sind zu hören: Sie erklären, was aus ihrer Sicht die Vorteile daran sind, Kinderprodukte so zu gestalten, als wären sie typisch für Jungen oder typisch für Mädchen.
Das Stück ordnet ein und erklärt und zeigt unterschiedliche Sichtweisen. Besonders wichtig in diesen Zusammenhang: Die Sicht von Kindern, die mit ihren Leidenschaften und Interessen nicht in dieses vermeintliche Raster hinein passen. So erzählt ein Junge, der Ballett tanzt und zwei Mädchen, die Go-Kart fahren, wie sie es finden, dass ihre Hobbys auf Kinderprodukten, in der Werbung und in vielen Medienbeiträgen immer nur dem anderen Geschlecht zugeordnet werden.
Die 50-minütige Kiraka-Radiogeschichte „Typisch Junge, typisch Mädchen“ ist nicht moralisierend. Sie beleuchtet die verschiedenen Standpunkte und soll zum Nachdenken anregen. Die Entscheidung, gendersensibel zu arbeiten, hat bei diesem Feature die Themensetzung, die Perspektive und auch die Auswahl der Fachleute und Kinder beeinflusst.
Bis 9. Dezember 2019 war der Beitrag online anhörbar.
Ansatz 2: Ausgewogenes Geschlechterverhältnis – auch bei Tieren
Der Stein des Anstoßes
Warum eigentlich sind Mädchen und Frauen im deutschen Fernsehen deutlich seltener zu sehen als Jungen und Männer, wo die Geschlechter in der Realität nahezu gleich oft vorkommen? Der MaLisa-Studie zufolge werden pro weiblicher TV-Figur zwei männliche gezeigt. Und wenn Frauen zu sehen sind, dann doppelt so oft im Zusammenhang mit Partnerschaft und Beziehung wie Männer.
In der Fantasiewelt des Kinderfernsehens ist der Unterschied sogar noch stärker: Hier kommen auf neun männliche Tierfiguren gerade mal eine weibliche. Eine! Ich fragte mich bei der Lektüre dieser Studie: Was macht das mit den Menschen, die Fernsehen schauen? Vor allem vor dem Hintergrund, dass das Geschlechterverhältnis auch im Printbereich verzerrt dargestellt wird: Laut den sich täglich aktualisierenden Ergebnissen der schwedischen Software „Gendertracker“ sind fast zwei Drittel der erwähnten Personen in deutschen Tageszeitungen Männer.
Für mich waren diese Zahlen alarmierend: denn als Journalistin möchte ich mit meiner Arbeit die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Andererseits sensibilisierten mich die Ergebnisse aber auch dazu, bei meiner eigenen Arbeit auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu achten.
Meine Zielgruppe
Kinder, Familien und Menschen, die sich für Natur und Umwelt interessieren.
Die Umsetzung
Auch in Bereichen, die augenscheinlich nichts mit Gender, Rollenstereotypen, Geschlecht und dergleichen zu tun haben, kann gendersensibel gearbeitet werden, zum Beispiel, indem auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis geachtet wird – selbst wenn es Tiere oder Fabelwesen sind.
Sensibilisiert durch die Daten der MaLisa-Studie, habe ich in einer Kiraka-Radiogeschichte über Biber besonders darauf geachtet. Biber? Richtig gelesen! Denn nachdem die zweitgrößten Nagetiere der Welt hierzulande viele Jahrzehnte so gut wie ausgestorben waren, werden sie an immer mehr Flüssen und Gewässern wieder heimisch – natürlich männliche und weibliche Tiere.
In dem knapp 45-minütigen Hörfunkfeature gibt es Reportage-Elemente, in denen einen Schulklasse zu hören ist, die mit einem Naturschützer auf Biberexkursion in den Hürtgenwald in der Eifel geht. Eine Tierpflegerin erzählt, warum einige dieser unter Naturschutz stehenden Wildtiere im Wuppertaler Zoo leben und welche Gewohnheiten sie haben und eine Mitarbeiterin eines Wasserverbandes erzählt, warum die Biber durchaus problematisch sein können. Neben meiner weiblichen Autorinnenstimme vermittelt ein männlicher Sprecher allerhand kuriose Infos und wissenswerte Aspekte, die die O-Töne der Expertinnen und Experten ergänzen und einordnen.
Neben dem ausgewogenen Verhältnis männlicher und weiblicher Stimmen in dem Beitrag gibt es noch ein weiteres Element, bei dem ich bewusst gendersensibel gearbeitet habe: fiktive Szenen, die als dramaturgisches Mittel eingesetzt wurden, um die Perspektive der Tiere selbst zu erzählen. Hier kommen verschiedene Biber zu Wort, gesprochen von Schauspielern. Ich wollte aber auch den Biberweibchen eine Stimme geben, denn allzu häufig sieht es so aus, als wäre das männliche Tier der Prototyp für seine Gattung.
Nicht so bei diesem Feature: hier sind auch Biberweibchen zu hören, die von professionellen Sprecherinnen gesprochen werden. So erzählt ein Biberweibchen, dass ihr Partner tödlich verunglückt war, weil Biber beim Nagen nicht die Richtung des fallenden Baumes bestimmen können.
Auch wird durch Dialoge der verschiedenen Biberfamilien in der Geschichte deutlich, wie unterschiedlich jede Biberfamilie ist: die einen bauen Biberburgen aus Ästen und Zweigen, die anderen graben Höhlen in Uferböschungen und wieder andere machen es sich im Hochwasserrückhaltebecken gemütlich – sehr zum Ärger des zuständigen Wasserverbandes übrigens. Und noch eines wird durch den Einsatz von Bibermännchen und Biberweibchen deutlich: die Art, wie sie zusammenleben: in einer heterosexuellen, monogamen Elternfamilie – im Tierreich, wo es die vielfältigsten Arten des Zusammenlebens gibt – z.B. Vater- oder Mutterfamilie, Rudel, Matriarchat, Harem, Herde – durchaus eine interessante Information.
Ich muss zugeben: die weiblichen Tiere explizit zu benennen, war anfangs ungewohnt. Doch ich merkte schnell, wie sich die Perspektive veränderte, wie die Geschichten lebendiger wurde und an Tiefe gewann und dass ich auf diese Weise Inhalte vermitteln konnte, die sonst vielleicht untergegangen wären.
Ansatz 3: Geschlechtersensibel formulieren
Der Stein des Anstoßes
Obwohl bereits einige Medien andere Wege gehen (Link) nutzen noch immer die meisten Medien wie selbstverständlich das generische Maskulinum, das aus einer Gruppe von 9 Politikerinnen und einem Politiker eine Gruppe von zehn Politikern macht. Und dass, obwohl bereits vor vielen Jahren Studien aus dem Bereich der experimentellen Psychologie gezeigt haben, dass Frauen hier zwar vielleicht mitgemeint sein mögen, allerdings nicht mitgedacht werden. Auch mit Studien, die Hirnaktivitäten mittels Magnetresonanztomografie (MRT) messen, konnte laut einem Bericht der Stuttgarter Zeitung nachgewiesen werden, dass Frauen bei männlichen Formulierungen keineswegs mitgedacht werden: Bei Worten wie „Sportler“ oder „Vegetarier“ assoziiert das Gehirn: Das sind Männer. Das passiert übrigens gleichermaßen, wenn Männer oder Frauen dies hören oder lesen. Das vermeintliche Totschlagargument gegen gendersensible Sprache, dass die Verständlichkeit leiden würde, ist längst wissenschaftlich widerlegt.
Und selbst aus dem Dudenverlag heißt es, dass die maskuline Form bei geschlechtsdifferenzierenden Personenbezeichnungen keine geschlechtsneutrale Form ist und der Ausdruck „generisches Maskulinum“ sachlich unzutreffend und irreführend sei (S. 29 in „Richtig Gendern).
In unseren Genderleicht-Schreibtipps haben wir viele Anregungen zusammengestellt, mit deren Hilfe Texte entstehen können, die die deutsche Sprache nicht verbiegen. Doch kommt ein Text in gendersensibler Sprache bei einer klassischen regionalen Tageszeitung durchs Redigat? Meine Erfahrung: Wenn kreativ getextet wird, geht das.
Meine Zielgruppe
Leserinnen und Leser einer regionalen Tageszeitung
Die Umsetzung
In einem 19.200-Zeichen-Text für das Magazin der Wochenendausgabe der Sächsischen Zeitung ging es um die Beobachtung, dass Kinder heute weniger alleine draußen spielen als früher. In dem doppelseitigen Artikel kamen Eltern zu Wort – Mütter wie Väter. Außerdem wurden ein Kinderarzt, ein Jugendamtsleiter und eine Expertin zitiert, die sich mit dem Thema beruflich auseinandergesetzt hat. Außerdem wurden Kriminalitäts- und Verkehrsunfallstatistiken betrachtet und deren Bedeutung eingeordnet. In dem Text wurde ohne Sternchen oder Gap gegendert. Zum Einsatz kamen stattdessen geschlechtsneutrale Begriffe, genaue Bezeichnungen, Tätigkeitsbeschreibungen, Pluralformen und an einigen Stellen sehr sparsam eingesetzte Beidnennungen.
Während des mehrere Korrekturschleifen umfassenden Schreibprozesses ging es nie um gendersensible Formulierungen. Wichtig war, dass der Text als Ganzes stimmig war. Es ging um Aspekte, die mal mehr und mal weniger ausführlich beleuchtet werden sollten oder um die Länge der szenischen Passagen im Text. Gegenüber der zuständigen Redakteurin habe ich nicht darüber gesprochen, dass ich mir vorgenommen hatte, diesen Artikel gendersensibel zu texten. Denn das sollte hier nicht im Mittelpunkt stehen. Bei einer Passage wurde es dann allerdings doch während des Redigierens im Hinblick auf gendersensiblen Journalismus interessant:
Mein ursprünglicher Text lautete:
„Bekannt werden aber meist die Fälle, bei denen der Täter oder die Täterin nicht aus dem näheren Umfeld kam.“
Die Redakteurin machte daraus:
Im Fokus der Öffentlichkeit aber stehen meist die Fälle, bei denen der Täter oder die Täterin ein Fremder war.
Darauf merkte ich an:
„Unbewusste Assoziation: Fremder = Mann“. Ich fragte höflich: „Ginge: … bei denen der oder die Täterin Fremde waren“?
In der Zeitung wurde schließlich der folgende Satz abgedruckt:
„Im Fokus der Öffentlichkeit aber stehen meist die Fälle, bei denen der Täter oder die Täterin Fremde waren.“
Der Satz war nicht nur gendersensibel, sondern auch fünf Zeichen kürzer, als der von Redaktion vorgeschlagene Satz.
An anderen Stellen habe ich von vornherein versucht, so zu texten, dass erst gar keine schiefen Bilder im Kopf entstehen. So ist im Text nicht die Rede von „Autofahrern“, sondern davon, dass „heute mehr Autos denn je auf Deutschlands Straßen unterwegs sind“. In der szenischen Passage beschreibe ich das, was ich auf dem Spielplatz tatsächlich gesehen habe: „Auf dem Kleinkindspielplatz backen kleine Sandbäcker Törtchen für ihre Eltern, die auf der Kante sitzen. Kletterkünstlerinnen balancieren konzentriert über die Wackelbrücke. Auf den Skaterampen üben Jugendliche auf BMX-Rädern und Grundschulkinder auf Rollern tollkühne Tricks.“
Meine Erkenntnis: Wer das Glück hat, mit einer guten Redaktion zusammenzuarbeiten und wer es schafft, Zusammenhänge so zu erzählen, wie sie tatsächlich sind, kann getrost auf das generische Maskulinum verzichten.
Fazit! Einfach mal machen!
Gendersensibler Journalismus ist ein Prozess. Nicht jeder Radio- oder Fernsehbeitrag und nicht jeder Text für Printmedien kann immer alle Kriterien erfüllen, die in puncto Geschlechtergerechtigkeit wichtig und wünschenswert wären. Doch bei meiner eigenen journalistischen Arbeit habe ich bemerkt, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, die wir Medienschaffenden in unserer täglichen Berufspraxis haben. Wir können darauf achten, dass das Geschlechterverhältnis der handelnden Personen in unseren Beiträgen verhältnismäßig ist, dass wir eine Sprache verwenden, die keine schiefen Bilder in unseren Köpfen erzeugt und dass Journalistinnen und Journalisten nicht nur bekannte Erzählperspektiven einnehmen, sondern sich und ihre eigenen Rollenvorstellungen von Geschlechtern hin und wieder hinterfragen.
Gendersensibler Journalismus kann meiner Erfahrung nach gut funktionieren. Er verändert die Perspektive, bereichert die Recherche, schärft das Sprachgefühl und macht dabei auch noch Spaß. Nachahmer*innen erwünscht.
Katalin Valeš war für den Juliane-Barthel-Preis 2019 mit ihrer Kiraka-Radio-Geschichte „Typisch Junge, typisch Mädchen?!“ nominiert. Die Preisverleihung war am 26. November in Hannover.
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Katalin Vales
REFERENTIN GENDERLEICHT.DE
Sie kennt Print- und Hörfunkredaktionen von innen und stand dem Gendern anfangs skeptisch gegenüber. Doch die vielen Argumente dafür haben die freie Journalistin überzeugt. Inzwischen formuliert Katalin Valeš gendersensibel und hat festgestellt: es geht sehr gut und macht Spaß.
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