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„Das Gendersternchen ist nicht barrierefrei!“ Das ist eine häufig gehörte Kritik. Denn auch sehbehinderte Menschen sollten Zugang zu Texten haben, die sich um Geschlechtergerechtigkeit bemühen.
Es trifft zu: Im Internet wird die Barrierefreiheit oft vernachlässigt. Domingos de Oliveira ist als blinder Redakteur eher zufällig auf das Thema gestoßen. Seine Auftraggeber*innen übertrugen ihm die Aufgabe, Texte und Webseiten auf Barrierefreiheit für Sehbehinderte zu prüfen. Aktuell berät Oliveira als Accessibility Consultant Organisationen wie „Aktion Mensch“ und „Der Paritätische NRW“. Auch kleinere Vereine und Institutionen arbeiten mit ihm zusammen.
Gendersensibel und barrierefrei – geht das?
Wir haben Domingos de Oliveira zu Screenreadern und Barrierefreiheit befragt. Er hat das Handbuch „Barrierefreiheit im Internet“ geschrieben. Auf seiner Website netz-barrierefrei.de setzt er sich ausführlich mit gendergerechter Sprache und Barrierefreiheit auseinander.
Gendersensibles Schreiben hat aktuell noch viele Variationen. Welche Art ist für barrierefreies Texten am besten geeignet?
Unter Sehbehinderten sage ich immer, dass der Doppelpunkt von der Lesbarkeit her am besten ist. Er wird standardmäßig von der Screenreader-Software gut vorgelesen. Da ist der klare Vorteil, dass man wenig aus dem Lesefluss herausgerissen wird.
Aktuell geht es dahin, dass viele Leute beim Schreiben das Sternchen verwenden. Es wäre gut, wenn sich eines der Sonderzeichen irgendwann etabliert hat. Es ist für uns als Sehbehinderte einfacher, nur mit einem Sonderzeichen umzugehen. Also persönlich tendiere ich zum Doppelpunkt. Mit dem Gendersternchen kann ich aber auch umgehen.
Wie hört sich eigentlich ein Screenreader beim Gendern an?
Domingos de Oliveira hat auf YouTube und auf seiner Website
ein Hörbeispiel für alle Genderformen veröffentlicht.
Wie sieht es in der Entwicklung der Screenreader in Punkto Genderzeichen aus?
Da tut sich jetzt nichts weiter. Jeder Screenreader lässt sich aber konfigurieren, sodass festgelegt werden kann, welches Zeichen gesprochen werden soll.
Einen weiteren umfassenden Screenreadertest hat
Digital Accessibility Consultant Taner Aydin durchgeführt und
im April 2021 veröffentlicht. Eine hochinteressante Zusammenstellung.
Ist dieses Programmieren des Screenreaders kompliziert? Oder wo gibt es dazu Tipps?
Wer ein bisschen programmieren kann, kann schon einstellen, dass in bestimmten Kontexten Zeichen vorgelesen werden sollen und in anderen nicht. Zum Beispiel, wenn ein Sternchen mitten im Wort steht, dann soll es nicht vorgelesen werden und wenn ein Sternchen am Ende steht, dann soll es vorgelesen werden. So etwas lässt sich schon lange konfigurieren. Man muss sich nur ein bisschen damit beschäftigen.
Zeichnet sich eine Möglichkeit ab, dass Screenreader mit mehreren Typen von Genderzeichen zurechtkommen?
In den verschiedenen Screenreader-Programmen gibt es zwar durchaus Unterschiede, aber gerade diese Ausspracheregeln sind alle relativ ähnlich. Was das Thema Aussprache angeht, ist es eigentlich ausentwickelt. Das ist ja ein Thema, das die Leute schon 20 bis 30 Jahre lang beschäftigt. Da wird sich auch nichts mehr tun. Die Herstellerfirmen sagen einfach: Ihr müsst selbst konfigurieren, wie ihr das haben wollt.
Was empfehlen Sie für den Aufbau einer Website, damit sie barrierefrei ist?
Wichtig aus der Perspektive der Barrierefreiheit ist es auf Einfachheit zu achten. Vor allem immer im Blick haben, dass ich als User vielleicht weniger machen kann, anstatt mehr. Auch in Bezug auf Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzer ist Einfachheit gut. So ist die Webseite gleich direkt für Smartphones optimiert.
Ein möglichst guter Kontrast beim Bedienfeld und für Elemente ist unumgänglich. Und das Thema Tastaturbedienbarkeit ist auch sehr wichtig, weil manche Menschen Webseiten nur mit Tastaturen bedienen können. Also vor allem bei interaktiven Sachen wie Navigation oder bei Kontaktformularen sollten die Elemente einfach mit der Tastatur zu bedienen sein.
Generell sage ich immer, dass eine Webseite mehr Inhalte zum Scrollen haben soll als zum Klicken. Dadurch gibt es mehr Content auf einer Seite und weniger Unterseiten, so dass die Nutzenden wahrscheinlich auch länger auf der Webseite bleiben.
Danke für das Gespräch!
Wie jetzt:
Doppelpunkt oder Genderstern?
Domingos de Oliveira hält den Doppelpunkt für das beste Genderzeichen. Damit weicht er von prominenten Meinungen aus der Community der Blinden- und Sehbehinderten ab.
Wenn, dann mit Genderstern
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. (DBSV) empfiehlt in seiner Leitlinie zum Gendern (März 2021) weitgehend auf Genderzeichen zu verzichten und lieber mit den Mitteln der Sprache, z. B. mit genderneutralen Wörtern, geschlechtliche Vielfalt zu verdeutlichen. Für Kurzformen rät er zum Genderstern.
Robbie Sandberg, Jugendreferent beim DBSV, erklärt sehr anschaulich, worin das Problem für Blinde besteht.
Die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik hat eine repräsentative Studie zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache erstellt (August 2021). Ihr Ergebnis: Nehmt den Genderstern, aber nutzt ihn bitte sparsam!
Weitere Stellungnahmen blinder Menschen
Diskriminiert das Gender-Sternchen blinde Menschen? Heiko Kunert in Heikos.Blog
Realität formt Sprache – Formt Sprache Realität? Jürgen Schwingshandel im Portal „Bizeps“
Jetzt wird’s praktisch
Infos zur Installation eines quelloffenen Screenreaders gibt es bei „Aktion Mensch“: Screenreader nutzen. Hier befindet sich auch eine Anleitung zum Selbsttest von Webseiten.
Für alle, die ihre Website barrierefrei aufsetzen möchten, haben wir Domingos de Oliveira nach einem Good-Practice Beispiel gefragt. Seine Empfehlung: Die Website des Vereins RUT: Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen e.V.
Gendern – nicht für für Blinde schwierig
Ein wichtiger Hinweis in Domingos de Oliveiras informativen Text: Beim Thema Gendern und Barrierefreiheit wird meist nur an die Sehbehinderung gedacht. Doch Genderzeichen bereiten auch Menschen im Autismus-Spektrum oder mit kognitiven Einschränkungen Schwierigkeiten.
Unsere Infos zum Thema Leichte Sprache und Gendern:

Anna E. Poth
REFERENTIN GENDERLEICHT.DE
Anna E. Poth diskutiert viel und gerne, um andere Leute zum Umdenken und Hinterfragen anzustoßen. Das gendergerechte Sprechen lässt sie auch als Theaterregisseurin noch sensibler auf ihr Gegenüber eingehen. Ihre journalistischen Projekte können zudem auf der Bühne wiedergefunden werden.
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